
Wort zur Woche: "Blind Audition"
01.06.2019
Wort zur Woche von Pastorin Anja Stadtland, Ev.-luther. Kirchengemeinde Adelby/Flensburg
Morgens um sieben ist es im Waschraum auf dem Campingplatz ganz still. Die Dauer-Beschallung schweigt, noch gibt es keine menschlichen Geräusche, die von Sommer-Hits verdeckt werden. Ihre Lieblings-Dusche ist frei. Das Wasser ist warm. Ein perfekter Urlaubstag liegt vor ihr, ein perfekter Sonnenaufgang liegt schon hinter ihr. Alles in ihr möchte jubeln. Wenn ich doch nur singen könnte, denkt sie. So dass es nicht peinlich wäre, wenn mich jemand hört. Erst neulich hatte ihr Kind kein Blatt vor seinen Mund genommen: „Das mit der Gesangskarriere wird wohl nichts mehr, Mama!“ Frech, aber wahr. Andererseits kennt mich hier keiner, und wenn schon, geht es ihr durch den Kopf. Sie singt einfach drauflos. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein...“ Sie denkt nicht, sie duscht, sie singt, taucht ab, taucht wieder auf. Erst, als sie das Waschhaus verlässt, bemerkt sie, dass da doch noch jemand ist. Rote Flip-Flops warten vor Kabine 7. Peinlich? Heute nicht. „Blind Audition“, denkt sie und lacht.
Der Camping-Platz ist aufgewacht. Die roten Flip-Flops stehen vor einem Zelt. Die Füße sind unter dem Frühstückstisch angekommen. „Wisst Ihr, was ich eben gemacht habe?“ Die 16jährige schaut aufgeregt und fragend in die verschlafene Runde. Zwischen Kakao und Brötchen lässt sie die Bombe platzen. „Ich habe mein Instagram-Account gelöscht! Und Facebook und Snap-Chat! Das Frühschwimmer-Beweis-Foto habe ich noch verschickt, aber jetzt ist Schluss!“ „Du hast was?“ Alle sind jetzt wach. „Aber das war dir doch super wichtig. Nur wer postet, lebt!“ Entsetzen und Ungläubigkeit schlagen ihr entgegen. Sie zögert nur kurz. „Nein, keine polierte Story mehr für die Mädels. Ich will keine Likes aus dem Irgendwo, damit sich mein Urlaub richtig anfühlt. Das tut er auch so!“ Sie erzählt von der Frau. „Die hat neben mir geduscht und dabei gesungen! Laut gesungen. Nicht perfekt, aber frei. Für sich selbst. Für mich nicht, für's Netz nicht. Vielleicht für Gott! Und wisst ihr was? Morgen singe ich mit!“