Der Taumel-Lolch am Altjahrsabend

31.12.2021

Eine Predigt zum Jahresschluss von Pastor Stefan Henrich

 

Jesus legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune. Matthäus 13,24-30

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen


Liebe Gemeinde,

ein Rätselwort zu Beginn. Was ist ein Taumel-Lolch?

Ist das der Spaziergänger, der sich aufmacht, seine Meinung nach einem Facebookaufruf mit hunderten anderen durch die Stadt zu tragen, begleitet von Überstunden schiebenden Polizisten?

Ist das der Wähler, der nicht wußte, ob er rot, grün oder schwarz wählen sollte und dann der FDP seine Stimme gab oder der AfD?

Oder ist der Taumel-Lolch der Silvesterknaller, welcher in Dänemark zu haben ist als Rakete, die in Flensburg zwar nicht gekauft aber gezündet werden darf?

Oder sind Taumel-Lolche etwa die Handballer der SG, die in dieser Saison zwar spät aus dem Quark kamen aber zu Weihnachten dann den Tabellenführer aus Magdeburg ärgerten?
 

Nein, all diese sind keine Taumel-Lolche, vielmehr ist der Taumel-Lolch eine dem Weizen sehr ähnliche höchst giftige Pflanze innerhalb der Familie der Süßgräser. Er wird auch Rauschgras oder Schwindelweizen, Tollgerste oder Tollkorn genannt,

Der Taumel-Lolch ist das Unkraut unter dem Weizen von dem Jesus erzählt in seinem kleinen Himmelreichsgleichnis.

Einen Bauern stellt er dabei vor Augen, der sät Weizen aus, in der Nacht aber kommt ein Feind, der sät den Taumellolch darunter, beides geht auf.

Vernünftig wäre jetzt, wenn der Bauer den Lolch ausreißt. Seine Arbeiter fragen ihn auch, ob sie das tun sollen, aber der Bauer ist klug und sagt "Nein".

Er weiß, dass der Taumellolch weitverzweigte Wurzeln hat, die den jungen Weizen unterirdisch umfesseln und umgarnen.

Wenn er also das Unkraut ausreißt, würde der Weizen mitgerissen werden, also sagt er:

Lasst ihn stehen mit dem Weizen und wachsen bis zur Ernte. Dann schneidet das Unkraut und gebraucht es als Brennstoff.

Das ist eine gute Idee: auch in Palästina sind die Nächte ja mitunter kalt und man braucht wärmendes Feuer oder was für den Herd.
 

Diesem Bauern, der so handelt, gleicht das Himmelreich sagt Jesus.

Was könnte Jesus gemeint haben, lässt diesen Bauern als Vorbild für das Himmelreich taugen?

Dass er geduldig ist und nicht voreilig? Dass er nicht gleich die Welt in Gut und Böse einteilt, sondern Nutzen in allem findet. Etwa, dass der Taumel-Lolch als Energierlieferant taugt, sozusagen Ökokraftstoff liefert.

 

Zeitsprung in dieses Jahr hinein. Am 22. Juli wurde der Psychoanalytiker Thomas Auchter im Zeitmagazin von einem Leser gefragt:

Warum gibt es in uns den Wunsch, alles in Gut und Böse einzuteilen ?

In seiner Antwort sagte er u.a. diesen Satz: „Nichts ist einfach. Nicht die Welt, nicht die Menschen, nicht die Wirklichkeit.“

 

Und der Theologe Gerhard Marcel Martin fragte vor Jahren in einer Meditation zum Gleichnis:

Wieviel Ambivalenz, wieviel „sie“ und „ihr“ und „wir“, wieviel Stimmenvielfalt, wieviel Impulsgewirr muß das Subjekt (d.i. der Mensch) in sich aushalten, um keine Kamikazee-Programme zu starten?! (G.M Martin, Das Thomas-Evangelium, Ein spiritueller Kommentar, Stuttgart 1998, S.194)

Ein anderer Theologe, Michael Plathow, schreibt:

"Die Mitarbeiter des Landwirts sind es, die das Unkraut einfach ausjäten wollen. Fakten schaffen wollen sie, Eindeutigkeit herstellen, eine einfache Antwort geben für eine komplexe Situation. Begleitet ist diese Absicht häufig mit empörtem Moralisieren, selbstgerechtem Urteilen, mit Verurteilen, Ausgrenzen und Spalten. Ideologische Kämpfe, beengende Unfreiheit, Zukunft verschließende Angst sind nicht selten die Folge, wie die Geschichte – auch der Kirche – zeigt."

(Prof. Dr. Michael Plathow, https://www.theologie.uzh.ch/predigten/6594-2/ )

 

Liebe Gemeinde, wissen Sie, was mich an diesem Gleichnis am meisten verblüfft hat?

Dass es am Ende dieses Jahres so treffend in unsere Situation hinein zu sprechen vermag.

Ich habe noch kein einziges Mal das Wort Corona erwähnt und doch ist dieses allgegenwärtige Thema in dem Gleichnis und der Auslegung ungeheuer präsent.

Ich frage mich: Ist der Virus der Taumel-Lolch unserer Tage, der dem Leben ein Gift beimischt, welches wir nicht für möglich gehalten hätten?

Sind die Reaktionen darauf so, dass wir uns in einfache vermeintliche Wahrheiten flüchten, die dem Ernst und der Vielschichtigkeit der Situation nicht gerecht werden? Oder lehrt uns schließlich das Virus einen neuen anderen Umgang mit der Natur und uns selbst?

Wächst Vernunft oder Unvernunft im Banne der Pandemie?
 

Das Gleichnis leitet dazu an, anzuerkennen, dass Gut und Böse oft miteinander verflochten sind.

Der Weizen wächst, der Taumel-Lolch auch. Die Arbeiter des Bauern, der Gutes gesät hat, ernten und trennen, bringen gute Frucht heim und werfen giftig Stroh ins Feuer um sich und andere zu wärmen.

 

Noch ein Zeitsprung:

Vor ein paar Tagen sagte jemand:

"Hoffentlich ist dieses Jahr bald vorbei, ich könnte es in die Tonne treten."

Eine andere sagte: "Wie war Weihnachten schön, so viel Ruhe und wir das erste mal mit unserem Enkelkind."
 

Ich hatte in diesem Jahr die Freude an einem Tageskalender mit Worten aus dem Wörterbuch der Brüder Grimm. Der Taumel-Lolch war übrigens nicht dabei. Trotzdem habe ich mit einigen dieser Worte Altjahrsabendübergangssätze für 2022 gebildet. Vielleicht haben Sie eine abschließende Anfangsfreude daran:

Gott möge aus seiner Mutterherzensfülle dein Leben froh und himmelheiter machen.

Ein Seelenschmetterling möge allen Schwermutsduft zur Lichtluft emporheben.

Getümmelmüde Gelegenheitsdenker mögen trübetümpelige Zukunftsvorgefühle fahren lassen.

Hainumsäuselt mögest Du im Honigschlummer schloppern und im Oasenschatten fruchtbeglückt aufwachen.

Und schließlich:

Die Freundschaftssonne Jesu Christi leuchte Dir als ein Herzwunder seines Heiligen Geistes alle Tage und Nächte im neuen Jahr.

Amen

 

P.S.: Den Kalender gibt es leider nicht für 2022. Die Worte aber können Sie nachschlagen unter https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB#0