Vom Festhalten und Standhalten - Eine Lesepredigt zum Sonntag Invokavit von Pastorin Sylvia Meyerding

Liebe Gemeinde,
zehn Tage lang habe ich mit Freude und zunehmendem Staunen den Schneemann unserer Nachbarn beobachtet. Im Dunkel des ersten Schneeabends mit offensichtlicher Freude gebaut, stand er zunächst ganz gerade. Doch dann senkte er sich in den folgenden Tagen immer mehr. Sah es zunächst so aus, als würde er sein Gesicht der Sonne entgegenhalten, wurde der Neigungswinkel immer bedenklicher. Und doch hielt er stand. Und ich fragte mich: Wie macht er das? Was hält ihn? Und wie lange wird er das schaffen?
Erstaunlich lange. Erst der Regen am Dienstag hat ihn verschwinden lassen- und nun sind an der Stelle, an der er stand, die ersten Krokusspitzen zu sehen.
„Jetzt bleibt mir nur noch das Telefon, gut dass ich manchmal die Hälfte verstehe“. So fasst meine Freundin ihre zunehmend schwierige Lage mit bitterem Humor zusammen. Sie ist Anfang 90, lebt allein und vermisst seit fast einem Jahr die Gruppentreffen, zu denen sie gern gegangen ist. Spazieren gehen mag sie ohne Begleitung nicht, zu groß ist die Angst zu stürzen. So blieben in dieser Zeit nur die regelmäßigen Besuche von Freunden, die der Woche Struktur gaben und die Einsamkeit in Schach hielten. Und jetzt: Nur noch das Telefon. (Zu) wenig für jemanden, der aufgrund seiner Schwerhörigkeit noch nicht einmal die Hälfte versteht. Und ich frage mich: Was gibt ihr Kraft durchzuhalten? Wie lange hält sie das aus, ohne ihren Lebensmut komplett zu verlieren?
Mit dem Aschermittwoch hat die diesjährige Fastenzeit begonnen. „Fasten“, das Wort kommt von festhalten. Einmal an den Änderungen, zu denen man sich innerlich für sieben Wochen durchgerungen hat. „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“- unter diesem Leitspruch steht alljährlich die Aktion „Sieben Wochen anders leben“, an der sich viele beteiligen.
Aber Fasten hat zum anderen eben auch mit der Frage zu tun: Was gibt mir Halt? Woran kann ich mich (fest-) halten, wenn viele äußere Ablenkungen wegfallen und ich auf mich selbst zurückgeworfen werde? Die Evangeliumslesung des heutigen Sonntages gibt darauf eine mögliche Antwort. Im Matthäusevangelium lesen wir, wie Jesus ganz auf sich zurückgeworfen wurde:

4, 1Danach wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt. Dort sollte er vom Teufel auf die Probe gestellt werden.2Jesus fastete 40 Tage und 40 Nächte lang. Dann war er sehr hungrig.3Da kam der Versucher und sagte zu ihm: »Wenn du der Sohn Gottes bist, befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden!«4Jesus aber antwortete: »In der Heiligen Schrift steht: ›Der Mensch lebt nicht nur von Brot. Nein, vielmehr lebt er von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.‹«
5Dann nahm ihn der Teufel mit in die Heilige Stadt. Er stellte ihn auf den höchsten Punkt des Tempels6und sagte zu ihm: »Wenn du der Sohn Gottes bist, spring hinunter! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Er wird seinen Engeln befehlen: Auf ihren Händen sollen sie dich tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.‹«7Jesus antwortete : »Es steht aber auch in der Heiligen Schrift: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen!‹«
8Wieder nahm ihn der Teufel mit sich, dieses Mal auf einen sehr hohen Berg. Er zeigte ihm alle Königreiche der Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit.9Er sagte zu ihm: »Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest!«10Da sagte Jesus zu ihm: »Weg mit dir, Satan! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihn allein verehren!‹«11Daraufhin verließ ihn der Teufel. Und es kamen Engel und sorgten für ihn.   Mt 4,1-11


Jesus wird vom Geist Gottes höchstpersönlich in die Wüste geführt – nicht etwa vom Teufel oder Satan. Nein: Der Geist Gottes, der ein Kapitel zuvor bei seiner Taufe in Form einer Taube auf ihn herabfuhr, führt ihn hinaus in die Wüste. Hinaus in die Stille und Leere. Hinaus in Entbehrung und Verzicht. In die Wüste gehen heißt, ganz auf sich gestellt zu sein.
Nichts zu haben an dem man sich festhalten könnte, aber auch nichts zu haben, was ablenkt von den eigenen Bedürfnissen, oder von den eigenen Ängsten. Schutzlos ausgeliefert zu sein- vor allem sich selbst. 40 Tage Wüste. Und die Versuchung lässt nicht lange auf sich warten.

Jesus erlebt den Verzicht in der Wüste in drei sich steigernden Versuchungen:
Erst soll er Steine in Brot verwandeln. Jesus hat Hunger. Nach 40 Tagen des Fastens hat er alle Stadien durchlaufen. Die Euphorie, dass „es auch ohne geht“ ist längst vorbei. Wie gut täte jetzt ein Stück Brot. Und nicht nur für ihn selbst. Den Hunger auf der Welt besiegen. Wer hat nicht einmal davon geträumt, dass das gelingt? Nur genug Dünger und Pestizide ausbringen, nur die Pflanzen nach unseren Vorstellungen genetisch verändern oder einfach die Steine in Brot verwandeln. Jesus weiß, es braucht mehr. “Der Mensch lebt nicht nur von Brot.“
Die Zeit in der Wüste soll Jesus auf seinen Weg vorbereiten. Es wird ein schwerer sein. Wie gut täte da die Erfahrung: Gott bewahrt mich in aller Not. Selbst der Sprung vom höchsten Punkt des Tempels kann mir nichts anhaben. Die zweite Versuchung.
Doch Vertrauen entsteht anders. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Eltern, die Liebe des Partners, die Bewahrung bei Gott kann nicht durch Demonstrationen erwiesen werden, sondern muss letztlich gewagt werden. Egal, wie viel spirituelles Wissen wir uns aneignen, wir können uns selbst nicht auffangen.
Manchmal ist das schwer auszuhalten. Pflegeeltern berichten oft davon, wie die ihnen anvertrauten Kinder ihre Zuverlässigkeit austesten. Immer wieder provozieren, um zu erfahren, dass sie angenommen sind, sie selbst sein dürfen, ein Zuhause gefunden haben.
Jesus weiß, dass wir keinen Beweis von Gottes Fürsorge erzwingen können. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen!“. Er widersteht der Versuchung, sich abzusichern, sein Vertrauen durch Beweise zu stützen.
Die dritte Versuchung ist die der Macht, ist die Versuchung der Welt.
„Das alles will ich dir geben, wenn du vor mir niederfällst.“
Was für eine Sehnsucht. Alles beherrschen, alles besitzen, alle regieren... Und würde ich es nicht auch viel besser machen als all die anderen, die jetzt die Macht haben? Doch Macht korrumpiert, setzt sich selbst absolut. Wie oft haben wir das in der Geschichte erlebt.
Macht will die Selbstverwirklichung, Liebe will die Hingabe. Und nur sie sagt Jesus hat eine Verheißung. Nichts gehört mir, alles ist Gott. Auch ich selbst. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihn allein verehren!“ Wo das wirklich geschieht, hat Machtstreben keinen Platz.

Jesus ist kein Mann der Macht, sondern der Liebe. Letztes besonders deutlich im Kreuz.
40 Tage in der Wüste. Sich selbst und den eigenen Ängsten und Versuchungen ausgeliefert. Doch eines ist wahr: Jesus ist nicht allein in der Wüste. Denn bei ihm ist der Geist Gottes- ob er das stets gespürt hat, ist eine andere Frage.
Jesus hat nicht nur körperlich gefastet, sondern auch gefunden, woran er sich festhalten kann, was ihm Halt gibt. Und er gewinnt Kraft für seinen Weg- immer wieder.
Was gibt mir Halt? Woran kann ich mich festhalten? Auf jeden Fall nicht an mir selbst. Auch wenn wir Menschen das oft gern möchten, wie einer meiner Lieblingswitze nur leicht überspitzt festhält:
Zwei Männer stehen in der Straßenbahn und halten sich an der Stange fest. Da mokiert sich einer der beiden über die Kirchgänger auf dem Weg zum Gottesdienst, die sie im Vorbeifahren beobachten können. Er meint:  „Nur arme schwache Menschen brauchen einen Halt im Glauben. Ich bin stark und finde den Halt in mir selbst.“ „Na“, antwortet der andere da trocken. „Dann halten sie sich in der nächsten Kurve mal an ihrer Krawatte fest.“
Menschen brauchen Gemeinschaft, Kontakt, Austausch- und ganz viel Kraft um Einsamkeit zu überstehen. Möge Gott sie uns immer wieder geben.