Wenn der Schmerz stumm macht- Gedanken zum Karfreitag von Pastorin Sylvia Meyerding

Nahe bei dem Kreuz von Jesus standen seine Mutter und ihre Schwester. Außerdem waren Maria, die Frau von Klopas, und Maria aus Magdala dabei. Jesus sah seine Mutter und neben ihr den Jünger, den er besonders liebte. Da sagte Jesus zu seiner Mutter: »Frau, sieh: Er ist jetzt dein Sohn.« Dann sagte er zu dem Jünger: »Sieh: Sie ist jetzt deine Mutter. «Von dieser Stunde an nahm der Jünger sie bei sich auf. « Nachdem das geschehen war, wusste Jesus, dass jetzt alles vollbracht war.  Johannes 19,25-31

Unter dem Kreuz stehen vier Frauen und ein Mann, stumm- wie erstarrt. Sie reden nicht miteinander und sie rufen auch nichts hinauf zu dem, der am Kreuz hängt. Was sollten sie auch sagen? Manchmal tragen Worte nicht mehr. „Wir werden dich nicht vergessen.“ oder „Ich werde weiterkämpfen für all das, wofür du dich eingesetzt hast.“ Wie hohl würde es klingen. Manchmal macht der Schmerz stumm. Manchmal das Entsetzen starr. Noch nicht einmal Tränen lösen den Schmerz.
Danebenstehen- zusehen- nichts tun können. Nicht mehr sagen zu können. „Es gibt noch Hoffnung“. Nicht mehr vertrösten können auf morgen oder nächsten Jahr oder, wenn die Zeit alle Wunden geheilt haben wird.
Wer hat keine Angst vor solchen Situationen?
Dieser Abschied in der Todesstunde ist trostlos.
Auch andere Abschiede können trostlos sein. Nicht nur, wenn jemand stirbt, kann ich spüren: Jetzt ist alles vorbei!  Nie wieder wird es sein wie vorher.
Da macht es keinen Sinn, vorschnell von der Auferstehung zu reden. Es blieben leere Worte. Noch ist der Schmerz, ist die Ohnmacht zu groß.
Der dritte Tag ist unendlich fern im Augenblick des endgültigen Abschieds. Und auch nach dem dritten Tag wird es nie wieder so sein wie vorher.
Doch der am Kreuz spricht- als einziger.
„Frau“ nennt er sie, nicht Mutter oder Mama. „Frau“ sagt er, „sieh, das ist jetzt dein Sohn!“
Und zum Jünger: „Sieh, sie ist jetzt deine Mutter.“
Beide begreifen, dass es hier um die Versorgung der Frau geht, die schon so viel verloren hat und mit dem ältesten Sohn auch noch den verliert, der ihr im Alter beistehen sollte.
Und so heißt es: „Von dieser Stunde an nahm der Jünger sie bei sich auf.“
Jesus lässt die Sorge um seine Mutter los. Sie wird ohne ihn leben müssen- und er hat getan, was er konnte, dass es gehen wird.
Sie soll ohne ihn weiterleben. Denn so soll es sein. Dass wir weiterleben auch nach dem Abschied.
Nicht, weil es ja irgendwie weitergehen muss.
Sondern: Aufgehoben bei einem anderen Menschen, einem Bruder, einer Schwester.
Jesus lenkt den Blick der Menschen unter dem Kreuz auf den jeweils anderen.
Siehe- schau hin! Da ist eine Frau, die dich braucht.
Siehe- schau hin! Da ist ein Mann, der für dich sorgen wird und dem damit geholfen wird.
Der Schmerz bleibt. Beide werden ihm nicht ausweichen können- aber aufeinander bezogen kann die eine dem anderen, der eine der anderen Halt geben und helfen zu tragen.
Der Blick zum Kreuz nimmt die tägliche Not mit in den Blick- und auch die ist oft genug kaum zu ertragen.
Denn die Frage nach Gott wird am Karfreitag ja nicht beantwortet, sondern noch einmal in ihrer ganzen Schärfe gestellt. Jede schnelle Antwort, warum Gott das zulässt, lästert den Gekreuzigten, nimmt das oft unvorstellbare Leid in dieser Welt nicht ernst.
Karfreitag zwingt uns, die Welt realistisch zu sehen und die schwarzen Seiten beim Namen zu nennen:
Einsamkeit- Erstarrung- Ohnmacht- Gottesferne.
Karfreitag kann ich nicht schön reden- nur aushalten, anstatt auszuweichen und wegzulaufen. Den dritten Tag kann ich nicht vorwegnehmen- ich muss ihn erwarten.
Und versuchen, darauf zu vertrauen, was der Gekreuzigte auch mir sagt: „Es ist vollbracht.“