Ein Bänkellied mit Schrumpelbeeren - Eine Lesepredigt zum Sonntag Reminiszere von Pastor Stefan Henrich



Liebe Gemeinde,
der Prophet Jesaja kommt im heutigen Predigttext  als ein Barde daher. Wie ein alttestestamentlicher Bob Dylan singt er ein Bänkellied voller Überraschungen mit theologischem Inhalt und sozialer Anklage. Er singt einen Text, der in fröhlicher Runde zu einem Erntefest vorgetragen wird, es wird gebechert und gelacht. Da erhebt Jesaja seine Stimme:

Hört mir zu! Ich singe euch das Lied meines Freundes von seinem Weinberg:

Auf fruchtbarem Hügel, da liegt mein Stück Land,
dort hackt ich den Boden mit eigener Hand,
ich mühte mich ab und las Felsbrocken auf,
baute Wachtturm und Kelter, setzte Reben darauf.
Und süße Trauben erhofft ich zu Recht,
doch was dann im Herbst wuchs, war sauer und schlecht.

Jerusalems Bürger, ihr Leute von Juda,
was sagt ihr zum Weinberg, was tätet denn ihr da?

Die Trauben sind sauer - entscheidet doch ihr:
War die Pflege zu schlecht? Liegt die Schuld denn bei mir?

Ich sage euch, Leute, das tue ich jetzt:
Weg reiß ich die Hecke, als Schutz einst gesetzt;
zum Weiden solln Schafe und Rinder hinein!
Und die Mauer ringsum - die reiße ich ein!
Zertrampelnden Füßen geb ich ihn preis,
schlecht lohnte mein Weinberg mir Arbeit und Schweiß!

Ich will nicht mehr hacken, das Unkraut soll sprießen!
Der Himmel soll ihm den Regen verschließen!

Der Weinberg des Herrn seid ihr Israeliten!
Sein Lieblingsgarten, Juda, seid ihr!
Er hoffte auf Rechtsspruch -
und erntete Rechtsbruch,
statt Liebe und Treue nur Hilfeschreie!
(Jesaja 5,1-7 aus der „Gute Nachricht Bibel“)

Liebe Gemeinde,
Das Lied vom Weinberg beginnt ganz unterhaltsam aber endet als Anklage. Erheiterung weicht, Ernüchterung macht sich breit. Im Wein ist Wahrheit – Jesaja mutet seinen Zuhörern da einiges zu. Dabei geht doch richtig gut los:
Da liegt ein Weinberg in bester Lage mit tiefgründig humosem und durchwurzelbarem Boden, von der Sonne wird er verwöhnt. Und der Weingärtner ist mit ganzem Herzen bei der Sache. Mit vollem Einsatz hackt er den Boden mit eigener Hand, setzt Reben ein, bückt sich nach den Steinen und entfernt diese, schichtet eine Mauer auf, damit der Weinberg geschützt ist vor Tieren und Dieben. Hat der Weingärtner etwas versäumt?
Die Antwort lautet: „Nein, mehr geht nicht.“

Alle, die das Lied hören zur Zeit des Jesaja hören, verstehen: Dieser Weingärtner ist wie Gott. Gott setzt sich ein für sein Volk Israel. Gott ist voller Liebe zu den Menschen, er scheut keine Arbeit und Mühe dafür. Das wird sichtbar an der Geschichte Gottes mit Israel. Die Befreiung aus Ägypten, das Land Kanaan, in dem Milch und Honig fließen, die Stadt Jerusalem mit den Königen David und Salomo. Es ist nicht zu übersehen: Gott hat Israel gehegt und gepflegt, so wie ein Weingärtner seinen besten Weinberg. Israel lebt von der Fürsorge Gottes und erfährt reichlich seine Liebe.

Und unsere eigenen Erfahrungen – gehen die nicht auch bei religiös aufgeschlossenen Menschen in diese Richtung? Gott hat in unserem Leben den Boden bereitet für viel Gutes. In jeden Menschen hat Gott Fähigkeiten und Begabungen eingepflanzt, die sich im Lauf unseres Lebens entfalten können.

Im Lied ist Erntezeit, Weinlese:
Der Weingärtner ist enttäuscht. Alles war vergeblich. Wo sonst die Reben voller Trauben hängen, findet sich nur totes Gestrüpp mit Schrumpelbeeren. Der Weingärtner kann die Früchte seiner Arbeit nicht ernten. Was nun?
Kommt nach der Arbeit nun die Enttäuschung?
 
Manche von uns kennen das.
Da wollen Eltern für ihre Kinder nur das Beste. Sie bezahlen Nachhilfeunterricht und helfen zuhause beim Vokabellernen – doch im Zeugnis stehen Fünfen.
Da eröffnet einer ein Geschäft, arbeitet jeden Tag zwölf Stunden und mehr – und dann kommt Corona mit dem  Lockdown und die berufliche Zukunft scheint genommen.
Da bemühen sich zwei Ehepartner, dass ihre Beziehung wieder ins Gleichgewicht kommt – und am Ende wartet doch die Scheidung. Alles vergebliche Liebesmühe – und im Weinberg schrumpeln die Trauben.

Und bei Gott? Müsste es da nicht anders aussehen?
Auch die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel ist eine Kette von Enttäuschungen weiß die Bibel zu berichten. Gott hat seinem Volk die Zehn Gebote und viele andere gute Weisungen gegeben, damit im Zusammenleben Gerechtigkeit und Nächstenliebe verwirklicht werden. Doch davon ist nichts zu sehen. Deshalb klagt  Jesaja seine Zuhörer mit harten Worten an:
„Gott hoffte auf Rechtsspruch / und erntete Rechtsbruch,
statt Gerechtigkeit / nichts als Schlechtigkeit,
statt Liebe und Treue / täglich Unrecht aufs neue!“

Kann man es dem Weingärtner übel nehmen, wenn er zornig wird? Muss er das alles noch länger mit ansehen?
Der Weingärtner will mit diesem seichstinkigen Weinberg nichts mehr zu tun haben. Er reißt die Mauer ein und lässt den Weinberg von Mensch und Tier zertreten. Er hat schon genug Zeit und Mühe verschwendet – jetzt ist Schluss.
 
Wie würden wir handeln? Wie oft haben wir schon Schluss gemacht und Menschen abgeschrieben? Wie oft ist unser Urteil schon vernichtend ausgefallen: „Bei dem ist Hopfen und Malz verloren“?

Jesaja kündigt das Strafgericht an. Der Weinberg wird der Verwüstung preisgegeben. Dazu braucht es nicht Blitz und Donner vom Himmel. Gott braucht nur seine schützende Hand wegzuziehen, der Rest erledigt sich von selbst.
Der Weinberg wird sich selbst überlassen. Und das wäre auch für uns die schlimmste Strafe: Wenn Gott die Menschheit sich selbst überlässt, wenn er uns allein lässt mit unserem Hass und allem Neid und aller Friedlosigkeit.

Liebe Gemeinde, es wäre ausgesprochen zukunftstraurig düster, wenn wir mit der Anklage des Liedes bei dem Ende der Bemühungen Gottes wären. Zum Glück haben wir trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen von Gott auch andere Kunde: Gott hat uns nicht dem hoffnungslosen Gericht überlassen und seine Hand von uns getan für immer. Gott will uns nicht bei unseren Fehlern und Versäumnissen behaften, vielmehr sucht er uns zurück zu führen auf guten Weg.  
 
Zu unserem Glück kann Jesaja an anderer Stelle andere Weinberglieder singen: positiv aufbauende, tröstlich motivierende Lieder, in denen es heißt, dass Gottes heißer Zorn abgekühlt ist und er den Weinberg wieder und wieder behütet. Er gießt ihn, wenn kein Regen fällt, und wenn Disteln und Dornen aufschießen,so jätet er die aus und er wünscht, dass alle bei  ihm Zuflucht suchen und Frieden machen mit ihm, ja mit ihm (vgl. Jesaja 27, 3ff.)

Zum Schluss:
Nach unserem christlichen Glauben pflanzt Gott einen neuen Weinstock in den alten Weinberg.  Das ist Jesus Christus, der von sich sagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Johannes 15,5)  In dem Wort Jesu steckt eine ungeheure Kraftzusage, die Trost und Mut gibt für alle Zeit. Gott in uns und wir in ihm und sein Wort schafft geistreich Frucht und Tat ohn Arg und Falsch in uns. Ob Jesaja darüber auch gesungen hätte?
Amen