
Kleine Auszeit: "Schmerzverstärker"
27.12.2024
Kleine Auszeit von Stadtpastor Johannes Ahrens
Heute vor einem Jahr waren wir noch die Mutti besuchen. Wie jedes Jahr zu Weihnachten. Die KI meines Handys spielt mir automatisch und ungefragt das Foto dazu ein: wie sie sich über den Pullover freut, der ihr schon an meiner Anja so gut gefallen hatte. Wir hatten ihr kurzerhand den gleichen gekauft. Zwei strahlende Gesichter sind da zu sehen, haargenau 365 Tage ist das jetzt her. Und ich merke, wie der Schmerz in mir aufsteigt. Das Weihnachtsfest zum ersten Mal im Leben ohne Mutter fühlt sich unvollständig an. Wehmütig denke ich zurück an zahllose Weihnachtsfeste, die sie uns Kindern liebevoll bereitet hat. An die Krippe aus Marionettenfiguren, selbstgemacht natürlich. An die bunten Teller mit überbackenem Marzipan und anderen Leckereien (bei mir hielten sie immer nur bis zum ersten Weihnachtstag). An Gottesdienstbesuche an Heiligabend mit der ganzen Familie und daran, wie ich vor Fremdscham im Boden versinken möchte, weil mein Vater verbotenerweise direkt vor der Kirche parkt, weil er findet, das sei bereits in seiner Kirchensteuer enthalten.
Weihnachten ist das Fest der Liebe, sagt man. Gerade deshalb ist es auch ein Schmerzverstärker erster Güte. Selten sonst ist so klar zu spüren, was fehlt. Was in Unordnung ist. Was einen umtreibt. In diesen Tagen gehen meine Gedanken raus an alle, die in unserer Flensburger Werft arbeiten und sich um ihren Arbeitsplatz sorgen. An die Beschäftigten der Papiermühle, die gerade dichtgemacht hat. An die Trauernden von Magdeburg, an die an Leib und Seele Verletzten. An Geflüchtete, die nicht wissen, ob sie sich schon freuen dürfen über die Entwicklungen in Syrien und sofort unverschämt bedrängt werden. An alle, die sich in diesen Tagen besonders sehnen nach Geborgenheit und Zweisamkeit. An solche, die ihr Weihnachtsfest im Krankenhaus verbringen mussten, ob als Erkrankte oder Pflegende.
„Jeder Mensch hat einen Himmel über seiner Wunde“, dichtet Giannis Ritsos. Vielleicht sind wir Gott nirgends näher als an unseren empfindlichsten Stellen. Wer weiß? Die Bedürftigkeit des Krippenkindes scheint jedenfalls darauf zu deuten. Die zauberhafte Zeit jetzt, die Zeit zwischen den Jahren, bietet sich ideal dafür an, nach diesem Himmel Ausschau zu halten. Er ist dort zu finden, wo es weh tut.