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Wort zur Woche: "Ein Buch voller unbeschriebener Blätter"

27.01.2023

Wort zur Woche von Pastor Dr. Marcus Friedrich, St. Nikolai in Flensburg

Das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart, getanzt vom Ballett-Ensemble des Landestheaters Schleswig-Holstein, ein großes Gesamtkunstwerk mit Orchester und Opernchor von den Rängen. Ich tauche ein in bewegte Bilder und in Musik, nach einem Tag, der so bunt und voll war, wie meine Pastorentage oft sind. Alles beginnt mit Lux aeterna, zum ewigen Licht wird Adam auf die Bühne geworfen, der erste Mensch, nackt und in erdfarbenes Licht gehüllt. Mit ihm fällt ein Buch in Ledereinband auf die Bühne, quasi vom Himmel. Adam löst das Lederband, das das Buch verschließt, und schlägt die Seiten auf. Ein Buch voller unbeschriebener Blätter, das konnten wir sehen. Ich muss an Psalm 139 denken: „Und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, und von denen keiner da war.“ 

Wir beginnen unser Leben als unbeschriebene Blätter. Bei Gott selbst sind wir es nicht. Zu leben heißt, ein Buch des Lebens zu schreiben und zugleich die Geschichte lesen zu lernen, die Gott schon in mein Buch des Lebens geschrieben hat. „Der erlesene Mensch!“ überschreibt der Theologe und Autor Klaas Huizing seine Anthropologie, seine Lehre vom Menschen. Der erlesene Mensch. Ich begreife über diese Urszene auf der Bühne, dass wir „Erlesene“ sind: Adam, der sofort versucht im Buch zu lesen, sein Leben zu lesen. Dass wir unsere Geschichte erzählen können, setzt voraus, dass wir unser Leben zu lesen versuchen, zu lesen mit Hilfe der Geschichten, die Gott seiner Welt eingeschrieben hat. 

Nie wurde mir deutlicher als in dieser Szene, Adam und das manifeste Buch, wie sehr die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben, die Möglichkeit, Geschichten zu schreiben, abzulegen und zu lesen, unser Menschsein ausmacht. Lesen ist voller Geist. Nie wurde mir klarer, was den Reichtum der Bücher voller Lebensgeschichten und was den Reichtum der Buch-Religion ausmacht.

Am Morgen hatte uns im Büro der Kirchengemeinde ein IT-Spezialist erklärt, dass die Daten und Informationen unserer Gemeinde fünfmal gesichert seien, wenn wir sie denn – in Zukunft papierlos – in die Datencloud laden würden. Sollte man Dingen in einem Medium vertrauen, die schon „Wolke“ genannt wird? Verloren und vergessen, denke ich. Wird das Wesentliche des erlesenen Menschen verloren sein? Die Zukunft wird es zeigen!