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Wort zur Woche: "Vom Wiedergefunden-Werden"

09.09.2022

Wort zur Woche von Pastor Tobias Drömann, Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Mürwik

Ein Samstagvormittag in der Innenstadt. Im kleinen Straßencafé haben sich die Tische bereits gefüllt. Eine gelöste, sommerliche Stimmung bei Cappuccino und Zimtgebäck. Da fährt plötzlich ein kleiner Junge auf seinem roten Laufrad durch die Stuhlreihen. Einmal den Gehsteig hinab, dann wendet er und fährt wieder hinauf. Wieder und wieder. Er weint und schluchzt, der Knirps, ruft nach seiner Mama. Erst nach einiger Zeit werden die Cafébesucher auf den Jungen aufmerksam. Hier stimmt etwas nicht. Ein junges Paar bleibt stehen, ein Familienvater und eine Jugendliche kommen dazu. Gemeinsam versuchen sie den kleinen Kerl zu beruhigen. „Was ist denn passiert? Wo warst du denn zuletzt mit deiner Mama?“ Der Junge kann vor Aufregung kaum antworten. Die Jugendliche kniet sich zu ihm, spricht ganz einfühlsam, wie eine große Schwester. Jetzt wird der Junge auf seinem Laufrad ruhiger, hört auf zu weinen. Mit seinem Bruder und der Mama war er unterwegs, aber wo das war, kann er nicht sagen.

Eine Viertelstunde vergeht, ohne dass sich etwas tut. Die Erwachsenen beraten sich besorgt: „Sollen wir die Polizei rufen? Was können wir noch machen?“ – Schließlich geht ein Ruck durch den Knirps. Da, endlich erspäht er seine Mutter, die aus einem Geschäft ein ganzes Stück entfernt getreten ist. Freudestrahlend saust der Junge auf seinem Laufrad zu ihr, fällt ihr in die Arme. Erleichtert setzen sich die Cafébesucher wieder an ihre Tische und trinken ihren inzwischen kalt gewordenen Kaffee.

Warum mir die Szene so nachgeht, überlege ich am Abend. Verloren gehen und wiedergefunden werden: das ist eine ganz elementare Erfahrung, die ich auch als Erwachsener noch kenne. Die Not eines verzweifelten Jungen auf seinem Laufrad lässt uns nicht kalt, und wir versuchen zu helfen. Für mich hat die kleine Alltagsgeschichte deswegen auch mit meinem Glauben zu tun: Gott will nicht, dass wir verloren gehen – nicht die Kinder und nicht wir Erwachsene. „Lasst uns fröhlich und guten Mutes sein, denn mein Sohn war verloren und ist wiedergefunden“, ruft der Vater in der Geschichte vom verlorenen Sohn, die Jesus erzählt (Lukasevangelium, Kapitel 15, Vers 24 und 32). Genauso freue ich mich mit dem Jungen auf dem Laufrad, denn in mir spüre ich: auch ich bin ein Wiedergefundener.