Wort zur Woche

04.03.2022

Das Wort zur Woche mit dem Titel "unter den Teppich gekehrt" kommt von Stadtpastor Johannes Ahrens aus Flensburg.

Unter den Teppich gekehrt

Zu jedem Sonntag gehört ein altes Gebet. „Psalm“ heißt sowas in der Bibel. Der wird zu Beginn des Gottesdienstes gesungen oder gesprochen. Diesmal ist es der 91. Psalm. Dessen Verse 11 und 12 gehören zu den bekanntesten und beliebtesten der Bibel. Eltern suchen sie häufig für ihre Kinder als Taufspruch aus. Verständlich, denn darin geht es um von Gott persönlich befehligte Engel. Die dich tragen, bei Bedarf sogar auf Händen, dass du deinen Fuß noch nicht einmal an einen Stein stoßest. Doch derzeit sieht es so aus, als seien selbst die himmlischen Heerscharen hoffnungslos unterlegen. 

Die Verse 7 und 8 desselben Psalm hingegen tauchen in keiner Gottesdienstordnung, in keinem Gesangbuch auf. Verschämt werden sie unter den theologischen Teppich gekehrt, verschwiegen als hätte es sie nicht gegeben. Betet sich ja auch viel einfacher ohne. Sie lauten:

„Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. Ja, du wirst es mit eigenen Augen sehen und schauen, wie den Frevlern vergolten wird.“

Hoffen, dass es einen nicht trifft. Dass die Kugeln rechts und links an einem vorbei zischen. Was in Friedenszeiten befremdlich daherkommt und irgendwie unangenehm aufstößt, bekommt plötzlich drängende Aktualität, beginnt zu sprechen. Durchkommen. Einfach nur durchkommen. Irgendwie. So fühlen nur Menschen, die existentiell ums Überleben kämpfen. Das mussten wir im wohltemperierten Mitteleuropa schon lange nicht mehr. Und haben stattdessen systematisch weggeschaut. Weder die pushbacks an den Außengrenzen der EU noch den wochenlangen sich abzeichnenden Überfall auf die Ukraine mit dem hunderttausendfachen Aufmarsch von Putins Schergen wirklich wahrhaben wollen. Jetzt gibt es plötzlich große Hilfsbereitschaft gegenüber fliehenden Frauen und Kindern aus der Ukraine. Das ist zu begrüßen, insbesondere dann, wenn andere nicht weniger bedrohte Menschen darüber nicht in Vergessenheit geraten. Mühsam lernen wir nun, was wir als Friedensverwöhnte verlernt haben: uns auch brutalen Realitäten zu stellen so wie den unbequemen Versen eines Psalms. Bitten wir auch dafür Gott um Beistand!