Wort zur Woche: "Zeitenwende"
30.12.2022
Wort zur Woche von Pastor Norbert Siemen, Ev.-Luth. Kirchengemeinde Glücksburg
Bundeskanzler Olaf Scholz hat kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in einer Regierungserklärung im Bundestag den Begriff der Zeitenwende benutzt: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Der Überfall bedrohe unsere gesamte Nachkriegsordnung. Seitdem ist dieser Begriff, den der Duden als das Ende einer Epoche und den Beginn einer neuen Zeit beschreibt, zu einem Leitmotiv des politischen und wirtschaftlichen Handelns geworden. Auch die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) hat diesen Begriff jüngst zum Wort des Jahres 2022 gewählt.
„Wer es könnte“, sagt Hilde Domin (1909-2006) in einem Gedicht, „die Welt hochwerfen, dass der Wind hindurchfährt.“ Die deutsche Dichterin jüdischen Glaubens hat trotz vieler Jahre der Flucht und des Exils an einem „Dennoch“ der Zuversicht festgehalten. Immer wieder beschreibt sie in ihren Gedichten die Sehnsucht nach einer Zeitenwende, „damit es anders anfängt mit uns allen“, wie die letzte Zeile des Gedichts „Abel, steh auf“ lautet.
Und Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), evangelischer Theologe und am Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt, schickte seiner Verlobten mit seinem letzten Brief aus dem Berliner Gestapogefängnis am 19. Dezember 1944 ein Gedicht als Weihnachtsgruß, das mit den Worten beginnt: „Von guten Mächten treu und still umgeben“. Bonhoeffer wusste sich auch in der Dunkelheit des Lebens von Gott „behütet und getröstet wunderbar“. Er setzte dieser Dunkelheit ein „Dennoch“ des Glaubens entgegen. Die Zeitenwende ist eine unverbrüchliche Hoffnung: „So will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.“